K. Kalt: Glücksspiel in der Schweiz

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Titel
Zettel, Zahl und Zufall. Glück und Glücksspiel am Beispiel des Schweizer Zahlenlottos


Autor(en)
Kalt, Katrin
Erschienen
Zürich 2004: Orell Füssli Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 21,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Isabel Koellreuter, Historisches Seminar der Universität Luzern

Bei wissenschaftlichen Untersuchungen über ein Alltagsphänomen wie das Schweizer Zahlenlotto besteht immer die Gefahr, als Leserin am Schluss zwar gründlich Bescheid zu wissen, gleichzeitig aber auch einem blutleeren Untersuchungsgegenstand gegenüber zu stehen, der an Faszination eingebüsst hat. Bei „Zettel, Zahl und Zufall“ ist dies keineswegs der Fall, im Gegenteil: Das Schweizer Zahlenlotto hat deutlich an Interesse gewonnen. „Geld, Glück, Zufall und Wünsche gehen beim Zahlenlotto eine kribbelnde Verbindung ein.“ (S. 8) Um diese Verflechtungen geht es der Autorin in ihrer Studie.

Es ist die Welt der Lottospieler/innen, die Kathrin Kalt in ihrer ethnographischen Arbeit unter die Lupe nimmt. Welche Bedeutungen werden dem Lotto zugeschrieben? Welchen Platz nimmt das Spiel im Alltag der Spielenden ein? Welche Vorstellungen von Geld, Glück und Zufall sind damit verbunden? Zu welchen Träumen animiert die Aussicht auf die „Lottomillionen“? Die spärlichen Arbeiten zum Glücksspiel in der Volkskunde beschränkten sich bisher vorwiegend auf die Sammlung verschiedener Spielarten und -gegenstände. Auch in anderen Disziplinen blieb die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Glücksspiel marginal. Am ehesten noch haben sich die Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie die Psychologie mit dem Thema befasst: Für die (Sozial-)Psychologie steht dabei der Suchtaspekt im Mittelpunkt, was laut Kalt den Umstand verschleiert, dass für viele das Spielen zum Alltag gehört. Dass das Glücksspiel als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung lange Zeit fast unbeachtet blieb, liegt nicht zuletzt auch daran, dass es in keine Kategorie richtig passen wollte. In seiner Untersuchung über die sozialen Funktionen des Spiels schloss Johan Huizinga zum Beispiel das Glücksspiel aus: In seinem Verständnis ging es im Spiel nie um materiellen Gewinn. Anders bei Roger Caillois, der das Glücksspiel zwar miteinbezog, die Spielenden jedoch als passiv und schicksalsergeben ansah, weshalb ihre Handlungs- und Entscheidungskriterien gar nicht erst in sein Blickfeld gerieten. In Erving Goffmans Untersuchung wurden Glücksspieler zu aktiv Handelnden, die gerade aufgrund ihrer Beurteilung einer Situation eine risikoreiche Handlung (Action) bewusst eingingen. Die Reise durch die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Risiko, Glück, Glückserwartungen und -vorstellungen endet bei Kalt im zweiten Kapitel mit dem Versuch einer Charakterisierung des Zahlenlottos: Es handelt sich um ein geregeltes Glücksspiel unter staatlicher Aufsicht, dessen Gewinnverwendung zu gemeinnützigen Zwecken eingesetzt wird. Das Zahlenlotto ist also ein reines Glücksspiel, dessen Ausgang nur vom Zufall abhängig ist und bei dem die Spielenden alle die gleichen Gewinnchancen haben. Lotto ist als Einzelspiel konzipiert, wobei es vereinzelt auch Tippgemeinschaften gibt. Es kommt im Spiel nie zu einer direkten Interaktion der Spielenden untereinander, weshalb Konkurrenz kaum je ins Bewusstsein tritt.

Im dritten Kapitel gibt Kalt einen Überblick über einige historische Aspekte des Lottos: Von der Genueser Senatorenwahl bis zur Entdeckung des Spiels als Geldquelle für leere Staatskassen: Je leerer die Kassen waren, desto ruhiger wurde es jeweils im Lager der Lottogegnerschaft. Ansonsten aber wurde gewettert, dass die Teilnahme am Glücksspiel alle Grundtugenden wie etwa Genügsamkeit, Fleiss und Sparsamkeit vernichte und schliesslich gar zum Suizid führe. Trotz einer äusserst aktiven Gegnerschaft florierte der Lotteriemarkt in der Schweiz im 19. Jahrhundert, bis er schliesslich in den Depressionsjahren 1920-23 übersättigt zusammenbrach und in der Folge neu organisiert wurde. Allmählich wichen die moralischen Bedenken der Lotterie-Gegnerschaft der Ansicht, dass die Einnahmen durch das Spiel ethisch durchaus vertretbar seien. Am 10. Januar 1970 schliesslich wurde das Schweizer Zahlenlotto als neues Angebot der Lotteriegesellschaften mit Ziehung vor laufender Kamera eingeführt und ist seither ein Riesenerfolg mit ständig steigenden Umsätzen.

Offenbar fiel es Kalt nicht einfach, Gesprächspartner/innen für ihre Untersuchung zu finden. Zu intim scheint das Thema des eigenen Spielens zu sein und zu heikel das Eingeständnis, dass es bei diesem Spiel (auch) um unerfüllte Wünsche geht. Schliesslich gelang es ihr doch, 19 Interviewpartner/innen zu gewinnen. Die Schilderungen ihres methodischen Vorgehens lesen sich spannend. Die Ausgangslage präsentiert sich folgendermassen: In der Schweiz finden wöchentlich zwei Ziehungen statt, Lotto spielen kann man an rund 3.700 Verkaufsstellen, Schätzungen zufolge beteiligen sich rund 9 Prozent der Bevölkerung am Zahlenlotto und den „typischen“ Lottospieler gibt es nicht. Die Lottospieler widerspiegeln vielmehr ziemlich genau die demografische Situation der Schweiz. Die Hälfte des Lottoumsatzes wird den Spielenden als Gewinn ausbezahlt, der Rest wird für gemeinnützige und wohltätige Zwecke verwendet, was die Spielenden im Allgemeinen jedoch nicht gross interessiert.

„Lotto ist eine Traumfabrik“ lautet der Titel des letzten und zugleich zentralen Kapitels, in welchem Kalt die individuellen Zugänge der Spieler/innen zum Zahlenlotto beschreibt. Für einige bedeutet die Teilnahme am Lotto die Fortsetzung einer Familientradition, ist verknüpft mit Bildern des Vaters, der mit der gleichen Ernsthaftigkeit, mit welcher er die Rechnungen erledigte, auch den Lottoschein ausfüllte, oder hat mit dem Gefühl zu tun, als Kind die Glückszahlen aussuchen zu dürfen. Für die Befragten, für welche Glücksspiele im Elternhause verpönt waren, erfolgte der Einstieg ins Spiel eher später und stand meist im Zusammenhang mit einer biografischen Veränderung. Kalt konnte anhand ihrer Befragungen eine spannende Korrelation feststellen: je geregelter der Alltag, umso regelmässiger wird am Zahlenlotto teilgenommen und umgekehrt. Die Teilnahme am Lotto wird in Zeiten der Unsicherheiten und Unregelmässigkeiten vernachlässigt, obwohl Lotto einen ähnlichen Stellenwert wie derjenige des Zeitungsabonnements hat, den „immer wiederkehrenden Dingen […] die deshalb strukturierend auf den individuellen Alltag wirken“ (S. 175).

Leider löst Kalt die Spannung zwischen diesen zwei Befunden nicht auf. Nebst Regelmässigkeit und Struktur eröffnet Lotto im Alltag vor allem einen Raum zum Träumen. Mit einem ausgefüllten Lottoschein nehmen die Befragten ihre Chance auf einen Gewinn wahr. Als spannendste Zeit gilt die Wartezeit zwischen dem Ausfüllen des Scheines und dem Vergleich mit den Gewinnzahlen. Das ist die Zeit, in welcher die Fantasie ihre Blüten treibt. Erstaunlicherweise würde niemand sein Leben grundsätzlich verändern wollen. Arbeiten würden alle Befragten weiterhin, trotz allfälligem Millionengewinn. Das grosse Los böte ihnen jedoch mehr Freiheit und Unabhängigkeit, die Möglichkeit beispielsweise den Traum der beruflichen Selbständigkeit zu verwirklichen oder sich weiterzubilden. Die Gespräche über Lotto werden zu Gesprächen über den gelebten Alltag – über Gewohnheiten, Kindheitserinnerungen, Vorstellungen vom Glück und Schicksal und vor allem über Träume und Fantasievorstellungen – und zeigen dadurch eindrücklich den Facettenreichtum, der sich hinter dem kleinen Lottoschein verbirgt. In diesem letzten Kapitel lässt die Autorin ihre Gesprächspartner/innen immer wieder in längeren Passagen direkt zu Wort kommen, was zwar durchaus den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Arbeit gerecht wird, für die Lesenden jedoch anstrengend ist, weil der Textfluss stets aufs Neue unterbrochen wird. Kritisch anzumerken bleibt lediglich, dass Kalts Argumentation an einigen Stellen nicht schlüssig ist: So versucht sie zum Beispiel im zweiten Kapitel zwischen den Erkenntnissen der Spieltheorie und den Strategien der Lottospielenden eine Analogie herzustellen, was indes nicht gelingt.

Die Untersuchung als Ganzes jedoch besticht durch Sorgfalt und interessante Beobachtungen. Zum Schluss wünscht man sich eine Fortführung der Untersuchung, um beispielsweise Vergleiche anstellen zu können zwischen dem Spiel von Frauen und Männern oder demjenigen auf dem Land und in der Stadt.

Ebenfalls offen bleibt, ob denn nun manchmal tatsächlich gewonnen wird und wie es sich denn lebt mit den vielen Millionen? Mit diesen Fragen gelangt man wieder an den Anfang des Buches, zu Katrin Kalts ursprünglichen Fragen. Da Lottomillionäre in der Schweiz jedoch anonym bleiben, konnten sie auch nicht befragt werden. Vielleicht möchte man’s jedoch gar nicht allzu genau wissen, weil so das Träumen viel schöner bleibt.

Redaktion
Veröffentlicht am
22.06.2006
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